3. Juli 2023

Ein erwachsenes Pflegekind berichtet über 15 Jahre Pflegekinderzeit

,,…da wo ich lachen und wo ich weinen kann, wo ich sein kann, wie ich bin.“

Simon (Name geändert), heute 19 Jahre, leb seit etwa 15 Jahren in einer Pflegefamilie und berichtet über seine Erfahrungen.
(Anmerkung: Wenn Simon über ,,Eltern“ spricht, meint er seine Pflegeeltern.)


Kannst du dich erinnern, ob du damals verstanden hast, weshalb du nicht mehr bei deiner leiblichen Mutter leben konntest und von deiner Pflegefamilie aufgenommen wurdest?

,,Ich glaube, mir hat das damals so richtig keiner erklärt. Ich war damals noch richtig klein* , ich weiß nicht. “ (*4,5 Jahre alt)

Was waren deine Sorgen?

,,Meine Sorgen waren vor allem, dass ich keinen Halt finde. Aufgrund dessen, weil ich zuvor zunächst in einer Bereitschaftspflegefamilie war und dann im Kinderheim. Dieser Wechsel ist, wie ich heute erfahren habe, nicht leicht für ein so junges Kind wie ich es war in der damaligen Situation. Das war somit zu wenig Anbindung und Sicherheit. Zudem hatte ich die Sorge, dass ich bei meinen Eltern nicht bleiben kann. Auch für die Zukunft. Ich wusste ja gar nicht, was mich erwartet. Meine Eltern waren zuerst ja völlig fremde Menschen für mich, bei denen ich leben sollte. Das waren sehr große Ängste und Sorgen für mich, soweit ich mich erinnern kann.“

Was waren deine Wünsche?

,,Dass ich da sicher bin, dass ich mich da irgendwie anbinden kann. Dass ich dableiben kann und dass ich schnell erwachsen werde, weil ich damals immer einen ziemlichen Hass auf Erwachsene hatte; weil ich zu diesem Zeitpunkt nie was Positives von Erwachsenen hatte. Ich bin immer nur weggeschickt worden. Dass ich schnell erwachsen werde damit mir keiner was tun kann; dass ich mich selbst verteidigen kann.“

Was waren ganz besonders schöne Erlebnisse in deiner Pflegefamilie?

,,Ganz schöne Erlebnisse waren bei der Anbahnung vor allem Dinge wie die Zoobesuche, die wir gemacht haben, um was zu erleben. Das erste Mal alleine Inliner fahren. Jeder kleine Erfolg. Oder, wenn man einfach mal einen Streit geklärt hat. Auch da bin ich inzwischen gut über mich hinausgewachsen; dass ich sagen kann, o.k., tut mir leid und sie (die Pflegemutter) dann auch in den Arm nehmen kann oder sowas…“

Was hättest du dir anders gewünscht?

,,Ich glaube nichts. Ich glaube, ich habe mit meinen Eltern einen sehr guten Fang gemacht. Ich fühle mich total wohl da. Und das war auch immer so. Klar die erste Zeit vielleicht nicht so sehr, aber meine Eltern haben mir immer so viel Sicherheit gegeben. Sie haben mir immer vermittelt: , Hier kannst du bleiben‘ , aber auch nicht zu offen. Sie haben auch gesagt: , Hier, das darfst du nicht machen!‘ Also auch mal Konsequenzen gesetzt, was ja auch gut für Kinder ist. Also, Grenzen setzen. Da haben meine Eltern alles richtig gemacht; da kann ich wirklich sagen, dass ich Glück im Unglück gehabt habe.“

Am schwierigsten fandest du…?

,,…das ist jetzt schwer. Ich würde sagen, am schwierigsten fand ich es, mich meinen Eltern gegenüber zu öffnen und wirklich zu sagen, mir geht es nicht gut, mir geht es gerade schlecht und ich muss über etwas reden. Also diese Offenheit, die ich heute habe, habe ich nicht immer gehabt. Die habe ich über die Jahre aufgebaut. Da bin ich stolz drauf, dass ich das irgendwie gelernt habe und dass ich das inzwischen kann und mit meinen Eltern, egal über welches Thema, immer offen reden kann. Ich musste z.B. nie schlechte Noten verheimlichen. Ich hatte nie Angst, mit meinen Eltern, über was auch immer, zu reden. Das habe ich überhaupt nicht ; das hatte ich auch nie. “

Was hat dir geholfen?

,,Ich habe früher ganz oft meine Eltern gefragt, ob sie mich lieb haben, ob ich dort bleiben kann. Das habe ich ganz oft gefragt – gefühlt 100 Mal am Tag. Das haben sie dann immer bejaht; mir Liebe gegeben, und sind auf mich eingegangen, wenn ich zum Beispiel geweint habe. Sie haben mir auch Sicherheit gegeben oder auch den Freiraum, wenn ich zum Beispiel gesagt habe: ,Ich will jetzt überhaupt nichts machen.‘ Ich glaube, das war eine sehr gute Hilfestellung.
Meine Eltern haben mich zu nichts gezwungen. Das heißt aber nicht, dass sie mir auch mal klare Ansagen gemacht haben. So haben sie z.B. , als ich keine Lust auf die Schule gehabt habe, mich dafür gelobt, dass ich einen halben tag geschafft habe und nicht gleich gesagt, warum bist du denn nicht den ganzen Tag dort geblieben. Meine Eltern waren immer für mich da. Irgendwie waren sie eine Mischung aus Vater – Mutter – guter Freud – Ankerpunkt und Beschützer. Wichtig ist auch, dass Eltern sich entschuldigen können. “

Welche Bedeutung hatte für dich die Annahme des Namens deiner Pflegeeltern?

,,Tatsächlich nicht so eine große, weil ich eigentlich mein Leben lang schon mit dem Nachnamen meiner Pflegeeltern angesprochen worden bin. Klar, war mein alter Name irgendwie noch immer im Raum. So stand er auf meiner Geburtsurkunde und auch in meinem Ausweis. Und es hat mich tatsächlich auch immer ein bisschen genervt, dass er dort draufsteht, weil auch immer irgendwer damit zu meinen leiblichen Eltern die Verbindung gesehen hat. Ich wollte aber nicht immer diesen zweiten Namen (Namen der leiblichen Eltern) haben und immer erklären müssen, sondern einfach: ich gehöre hier hin, das ist meine Familie und hier fühle ich mich wohl und alles andere sind dann Privatsachen.“

Das Beste an deiner Pflegefamilie ist..?

,,Dass es meine Familie ist, dass ich da zuhause bin – mich da wohl fühle. Ich kann zu meinen Eltern gehen, wenn ich was hab‘ oder zu meiner Cousine, Onkel, Tante. Dass ich wirklich – ich sage das jedem, dem ich das irgendwie erkläre – dass ich wirklich froh bin, so eine Familie zu haben, weil, das haben ja lange nicht alle, wo alle miteinander klarkommen, wo man zusammen kann und sich an Feiertagen trifft. Das ist wirklich das Schönste! Also ich freu mich, wenn ich nach Hause kommen kann.“

Die Beratung der Ev. Jugendhilfe bedeutete dir…? War für dich…?

,,Ich hatte eigentlich überhaupt keine Lust darauf, Auf die Gespräche. Vor allem, als ich noch jung war. Ich weiß nicht genau, was es so war. Aber früher war die Angst, dass ich doch wieder wegkomme, weil meine Eltern vielleicht irgendwas falsch machen? Im mittleren Alter/Pubertät war es dann irgendwie das Alter – keine Lust auf niemanden – lasst mich alle in Ruhe. Ich will überhaupt nicht mit euch reden.“

Wie waren die Hilfeplangespräche?

,,Teils gut und teils auch sehr nervig. Es war aber nie so, dass ich für mich gesagt habe: Ich freue mich darauf.“

Was du schon immer mal deinen Pflegeeltern, dem Jugendamt, deinem Berater sagen wolltest? Was hättest du dir gewünscht?

,,Bei meinen Pflegeeltern nichts, Meine Pflegeeltern haben alles richtig gemacht, …klar gab’s auch mal ein paar Sachen, aber das hat ja irgendwie jeder. Auch du (Anmerkung: der Berater) hast sehr viel richtig gemacht. Aber dass du vielleicht noch mehr auf mich eingegangen wärst und mit mir gemacht hättest; …für mich war das Jugendamt immer etwas…schwierig.“

Leibliche Eltern und Pflegeeltern – zwei Gegensätze oder Partner oder…? Was sagt dein Herz? Was sagt dein Kopf?

,,Das ist sehr schwer. Gegensätze auf keinen Fall. Ich würde aber meine Pflegeeltern vor meinen leiblichen Eltern vorziehen. Sie sind aber nicht in Vergessenheit geraten. Ich denke auch immer noch an sie. Sie hat mich geboren. Gegensätze auf keinen Fall. Partner aber auch nicht. Ich sage mal eher: Bekannte.“

Wenn du an den kleinen Simon denkst, was würdest du heute, als erwachsener Simon, dem kleinen Jungen von damals mit auf den Weg geben?

,,Dass alles so seine Richtigkeit hat. Dass das Schicksalsbuch den Weg so vorbestimmt hat. Auch wenn es manchmal schwierig war – irgendwann wird alles gut. – Du schaffst das!“

Wenn neue Pflegeeltern dich fragen würden, worauf sie besonders achten sollten, was sie besonders gut können sollten, wäre das…?

,,Es sollte ein unfassbar großer Topf an Empathie vorhanden sein und man sollte das Kind immer vorziehen, …und auch auf das Kind eingehen – auch bei Kleinigkeiten. Dass die Eltern mit dem Kind was unternehmen und ihm auch Freiraum geben, aber auch begrenzen. “

Familie ist für dich…?

,,…da, wo ich mich Zuhause fühle. Wo ich lachen und wo ich weinen kann, wo ich sein kann, wie ich bin. “

Was würdest du anderen Kindern und Jugendlichen empfehlen?

,,Auch wenn ihr das Gefühl habt, alles ist blöd, ihr werdet nicht geliebt…Schlechte Tage gibt es immer, aber es gibt immer ein stückweit Hoffnung, dass es wieder anders wird – auch wenn man dies vielleicht nicht sieht. Schlechte Tage gibt es immer mal. Ihr schafft das! “

Ohne dich hätten deine Pflegeeltern viel Schönes im Leben verpasst! Zum Beispiel…

,,Ich glaube, dass ich das Beste bin, was meinen Eltern passieren konnte. Ich glaube, wenn du meine Eltern fragen würdest, würden sie sagen, dass ich das Beste bin was ihnen hätte passieren können!“


Informationen zu Möglichkeiten, einen jungen Menschen bei sich aufzunehmen:


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